Hier traf alles Unglück das man sich vorstellen kann aufeinander, die Lebensgeschichten von Tammi Terrell und Marvin Gaye versammelten alle nur erdenklichen Schicksalsschläge und hätten von einem antiken Dramatiker stammen können. Vielleicht sang das Traumpaar des Soul aber gerade deshalb so betörende Duette, sie offerierten in schwelgerischen Farbtönen ihrem Publikum die schönen Seiten des Lebens die ihnen selber (zumindest Tammi) vergönnt blieben.
Die 1945 in Philadelphia geborene Thomasina Winifred Montgomery veröffentlichte schon 1961 ihre erste Schallplatte, weitere Kurzrillen bis 1964 erschienen unter dem Namen Tammy Montgomery. 1962 wurde sie von James Brown entdeckt und in seine James Brown Revue integriert. Parallel dazu liess sich die aufstrebende Sängerin auf eine Beziehung mit dem „Godfather Of Soul“ ein. Das ging allerdings nicht gut, um weiterer Gewalt von Brown zu entgehen, floh sie zu ihrer Familie.
Berry Gordy schliesslich holte sie 1965 zu Motown und vermarktete sie fortan als Tammi Terrell, ihr bürgerlicher Name erschien ihm zu gewöhnlich. Die ganz grossen Hits landete Tammi zwar nicht mit ihren Singles, aber als man 1967 konzernintern eine Nachfolgerin für Marvin Gaye’s Duettpartnerin Kim Weston suchte (das gemeinsame “It Takes Two” wurde sogar in England ein Hit, danach wechselte Kim Weston zum Label MGM), fiel die Wahl auf Tammi. Die Chemie stimmte auf Anhieb, „Ain’t No Mountain High Enough“, „Your Love Is A Precious Thing“, „Ain’t Nothin‘ Like The Real Thing“ und eine lange Reihe weiterer Singles wurden zu Hits und die beiden Motown-Artisten zum Traumpaar hochstilisiert.
Auch wenn sie nur auf gesanglicher Basis miteinander verbandelt waren (Marvin Gaye hatte 1961 Anna Gordy, die Schwester des Motown-Gründers geheiratet), die Texte und ihr gemeinsamer gesanglicher und optischer Vortrag machten sie in den Augen und Ohren der Fans zu Mr. und Mrs. Perfect. Mit ihren Songs zeichneten sie eine ideale Welt in der Liebe, Treue, Verständnis und Gleichberechtigung unumstössliche Monumente waren. Dabei wurden sie nie weinerlich oder drifteten in kitschiges Gewässer ab, der unverkennbare positive Motown-Groove war immer greifbar.
Auf privater Ebene hatte Tammi weiterhin kein Glück, sie war einmal mehr an den falschen Partner geraten, Dave Ruffin von den Temptations neigte zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen und verprügelte regelmässig seine Freundin. Sie brach die Beziehung trotzdem erst ab, als sie erfuhr, dass er in einem anderen Bundesstaat offiziell verheiratet war. Die Kopfschmerzen unter denen sie immer öfter litt, tat die Sängerin als Folge oder der psychischen Spätfolge der Misshandlungen ab.
Am 14. Oktober 1967 brach Tammi Terrell bei einem gemeinsamen Konzert mit Marvin in Hampden-Sidney, Virginia auf der Bühne zusammen. Die ersten Untersuchungen ergaben vorerst keinen schlüssigen Befund, nachdem Lähmungserscheinungen und Sehstörungen hinzukamen wurde schliesslich ein Hirntumor bei ihr diagnostiziert. Im Januar 1968 unterzog sich Tammi einer Gehirnoperation. Obwohl die Ärzte davon abrieten, stand sie schon zwei später Monate wieder auf der Bühne. Ihre gesundheitliche Verfassung geriet dann zur eigentlichen Achterbahnfahrt, es ging auf und ab, es folgten unzählige weitere chirurgische Eingriffe. Trotz all dem Leiden erschien Tammi 1969 im Rollstuhl zu Aufnahmesessions bei Motown, aufgeben gehörte nicht zu ihrem Vokabular. Marvin Gaye produzierte derweil unablässig Song um Song, teilweise mit unverwendeten Aufnahmen aus dem Archiv, er schien regelrecht fixiert zu sein auf diese Duette mit Tammi. Am 16. März 1970 starb Tammi Terrell nach einer weiteren Operation im Graduate Hospital Philadelphia.
Die Grabesrede hielt Marvin Gaye, der Verlust seiner Freundin stürzte ihn danach in Depressionen. Trotzdem blieb er ein Workaholic, die Alben What’s Going On (1971), Let’s Get It On (1973) wurden zu Klassikern des Souls, 1973 produzierte er die Duett-LP Diana Ross & Marvin Gaye, ein Versuch an die erfolgreichen Zeiten mit Tammi anzuknüpfen. Sein Leben geriet nun komplett aus den Fugen: Kaum Vater einer Tochter geworden ging 1975 die Ehe mit Anna in die Brüche. Er kämpfte mit seiner Kokainsucht und geriet in finanzielle Schieflage, litt an Verfolgungswahn, wurde erneut depressiv und veröffentlichte noch mehr Schallplatten. Er war für kurze Zeit ein zweites Mal verheiratet, lebte für ein paar Monate in Hawaii und setzte sich wegen Problemen mit der US-Stuerbehörde ins europäische Exil nach Belgien ab. 1983 zog er zu seinen Eltern, einerseits um sich wieder aufzufangen und andererseits um der kranken Mutter beizustehen, es war der endgültige Anfang vom Ende: Am 1. April 1984 – einen Tag vor seinem 45. Geburtstag – wurde Marvin Gaye bei einem Familienstreit in Los Angeles von seinem Vater und ewigen Peiniger erschossen, mit einer Waffe notabene die er seinem Dad (einem Prediger) zu Weihnachten geschenkt hatte. Die Geschwister von Marvin rätseln bis heute darüber, ob ihr Bruder die Schüsse vielleicht ganz bewusst provoziert und in diesem Sinne Selbstmord durch die Hand des eigenen Vaters begangen hatte.
Textzitat aus
„What’s Going On”:
Father, father
We don’t need to escalate
You see, war is not the answer
For only love can conquer hate
You know we’ve got to find a way
To bring some lovin’ here today, oh oh oh
Wie eingangs erwähnt: Würde sich ein Schriftsteller eine solche Geschichte ausdenken, man würde ihn für verrückt erklären, aber manchmal stellt offenbar die Realität selbst die Fiktion in den Schatten.
Das musikalische Vermächtnis von Tammi und Marvin ist von höchster Qualität, Soul der wirklich mit Seele und Inbrunst gesungen wurde. Damit einem keine der Aufnahmen entgeht, würde ich die DoCD Marvin Gaye & Tammi Terrell – The Complete Duets (2001, Motown) empfehlen, da drauf finden sich die drei originalen LP’s plus jede Menge Bonusmaterial.
Ebenfalls ausgezeichnet ist Tammi Terrell – Come On And See Me: The Complete Solo Collection, (2010, DoCD, Hip-O-Select) eine hervorragende Sammlung sämtlicher Solo-Recordings von Tammi, inklusive der Montgomery-Zeit und dem faszinierenden, bis dato unveröffentlichten Mitschnitt Live At The Roostertail (1966), Club-Aufnahmen aus Detroit die entstanden als Tammi, begleitet von der Earl Van Dyke Group an einem Motown Monday den Supporting Act für Smokey Robinson machte.
Das Werk von Marvin Gaye ist zu umfangreich um es gerecht zusammenzufassen, da sollte man die einzelnen Phasen in Etappen ergründen, von den frühen Motown-Jahren, den Duett-Zeiten mit Mary Wells (1964), Kim Weston und Tammi Terrell, von “I Heard It Through The Grapevine” (1968) über “What’s Going On” bis “Sexual Healing” (1982).
LONG LIVE SOULFUL MUSIC!
mellow