The Paper Dolls

Dieses britische Dreiergespann kann man kennen, muss man aber nicht kennen.
Aber vielleicht hat man ja trotzdem im Zusammenhang mit Northern Soul und mit britischer Popmusik von Ende der 60er-Jahre schon mal was von diesem weiblichen Gesangstrio gehört, vielleicht auch nicht. Das wäre dann aber ein Zustand der als schade einzustufen wäre, denn die Paper Dolls (nicht zu verwechseln mit einer gleichnamigen US-Disco-Group von Mitte 70er) waren mindestens so scharf ihre Motown-Vorbilder aus Übersee, eigentlich sogar noch knalliger und knackiger. Im Nachhinein betrachtet waren die Paper Dolls so etwas wie die Grossmütter der Spice Girls, eine der ersten Girl-Gesangs-Groups in England eben, die Blaupause, aber auch das unerreichte Original.

The Paper Dolls waren die drei Freundinnen Susie „Tiger“ Mathis, Pauline „Spyder“ Bennett und Sue „Copper“ Marshall. Sie hatten sich 1967 an der Pitt-Draffen Academy of Dramatic Arts in Northampton kennengelernt und schon bald einmal ihre gemeinsame Vorliebe für amerikanischen Soul bemerkt. Zuoberst auf ihrer Liste standen Girl-Groups, die Supremes, die Marvelettes, Martha & The Vandellas und ähnlich orientierte Unternehmungen. Optisch präsentierten sich The Paper Dolls weitaus weniger traditionell/konservativ als ihre seelenverwandten dunkelhäutigen amerikanischen Schwestern, anstelle von Abend- oder Cocktailkleidchen wählten sie bewusst die britische Erfindung Minirock. Frech, gewagt, in Kombination mit schriller und bunter Obermode aus der Londoner Carnaby Street.  Ihre Kneipen-Auftritte sprachen sich herum, das Label PYE zeigte sich interessiert und nahm die drei schrillen jungen Ladies unter Vertrag.


Ihren grössten Erfolg konnten sie gleich zu Beginn ihrer kurzen Karriere verbuchen, die Single „Something Here In My Heart (Keeps A Tellin‘ Me No)“ erreichte 1968 in den UK-Charts einen respektablen Platz 11. Im selben Jahr wurde der ausgezeichneter Longplayer Paper Dolls House auf den Markt geworfen, gefolgt von Auftritten in der BBC-Musiksendung Top Of The Pops. Im Prinzip hätten die Paper Dolls jetzt eigentlich durchstarten müssen, die Realität sah jedoch anders aus: Es geschah so ziemlich nichts. Ich vermute hier kam es zu Fehlern des Managements, bei PYE hatte man ganz keinen Plan wie man die Mädchen geschickt vermarkten könnte, an der Musik kann es nicht gelegen haben, die war schlicht umwerfend.


„Boys“ hätte meiner Meinung als Single veröffentlicht werden müssen, das wäre ein Hit geworden. Oder Paper Dolls‘ Coverversion von „Step Inside Love“ (eine Nummer die Paul McCartney für Cilla Black geschrieben hatte, die allerdings mit deren schrecklich weinerlichem Vibrato-Gesang bis heute eine Zumutung ist, daran ändert auch der damalige Erfolgs-Produzent George Martin nichts), der Popsong wurde in den PYE-Studios in grandiosen Easy-Listening-Crossover-Trashrock verwandelt! Vielleicht ist es wegen dem ungewohnten Stilmix auch schon fast progressiver Rock… anyway… jedenfalls raubt dir der mit krachendem Drum hinterlegte Wahnsinns-Riff (ohne Einsatz von E-Gitarre übrigens, das ist bloss nacktes Schlagzeug mit Orchesterbegleitung) im Refrain die Luft aus den Lungen. Tiger, Spyder und Copper gaben hier alles, sie riefen ihre ganze stimmliche Bandbreite ab, von säuselnd soft bis rockig brüllend, ich orte in „Step Inside Love“ den absoluten künstlerischen Höhepunkt der Paper Dolls. Das geniale Arrangement mit diesem von einem Killer-Drummer gespielten Killer-Schlagzeugbreak lässt mich übrigens unweigerlich an das Produzentengespann J.-P. Jones / J. Page denken, auch wenn das nirgends so verbrieft ist, es ist eine Meisterleistung, eine auf knapp drei Minuten komprimierte Sternstunde britischen Musikschaffens, selbst wenn die Namen der beteiligten Musiker unbekannt sind.

Die Paper Dolls dümpelten langsam aber stetig auf ihr Ende zu, 1970 erschien mit dem schmissigen „Remember December“ (Brian Connolly von Sweet war da angeblich am Backgroundgesang beteiligt) ihr letzter Tonträger.
Tiger Sue machte danach noch ein paar Jahre solo weiter und veröffentlichte die ein und andere Single. Mit dem aufkommenden Northern Soul in den 70ern landeten auch die Paper Dolls wieder vermehrt auf den Plattentellern Britanniens.


The Paper Dolls – Something Here In My Heart – The Complete Recordings 1968-1970
(CD,
RPM, 2018), eine empfehlenswerte Compilation, sie umfasst sowohl die einzige LP der Paper Dolls, die Singles aber auch Tigers Solo-Recordings.

LONG LIVE SOUL MUSIC!
mellow

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