Historische Rock-Kultstätte, Familiärer Treffpunkt, Musikalisches Vogtland
Ich habe die Geschichte vom Bergkeller und des Art-Rock-Festival in der großen Kreisstadt Reichenbach im sächsischen Vogtlandkreis fast ein Jahrzehnt lang mit großem Interesse verfolgt. Anfänglich dachte ich mir, wieder so eine feine Lokalität wie beispielsweise Bad Doberan (MV), Waffenrod (Thüringen), Breitenbach (Nordhessen), Finkenbach (Odenwald), alles Orte die der normale deutsche Bürger nicht oder nur selten kennt, die aber für die Fans der anspruchsvollen Rockmusik tönende und leuchtende Kultstätten der Live-Musik sind. Diesmal möchte die Rock-Kathedrale Neuberinhaus in Reichenbach vorstellen. Mitten im schönen Stadtkern findet seit 2016 meist im Frühjahr jedes Jahr ein internationales, mehrtägiges Rock-Festival statt. Der Chef-Drahtzieher Uwe Treitinger schafft es mit seinen vielen Kontakten in die Musikszene immer wieder echte Stars in seinen Musik-Club Bergkeller, versteckt am Ortsrand, zu einem Besuch zu bewegen. In nachfolgenden Texten werden wir viele davon erwähnen und vorstellen. Uwe ist aber auch ein großer Förderer des Nachwuchses. Viele unbekannte Künstler haben bei ihm eine erste Chance bekommen und sind danach durchgestartet. Das vergessen die vielen Musiker aus ganz Europa nicht, kommen immer wieder gerne nach Reichenbach und feiern mit ihren Fans in familiärer Atmosphäre.
Namensgeberin Friederike Caroline Neuber geborene Weißenborn erblickte am 9. März 1697 in Reichenbach dass Licht der Welt. Wie viele andere Menschen dieser Zeit hatte sie eine wechselvolle Geschichte, die erstmals mit Heirat von Schauspieler Josef Neuber und Beitritt beider in die Spiegelbergschen Gesellschaft stabiler wurde. 1725 gründete die „Neuberin“ ihre eigene Wander-Theater-Truppe, mit der sie in ganz Europa berühmt wurde. Nach den Vorbildern der französischen Schauspielkunst spielte sie selbst Rollen von der Soubrette bis zur Heroine. In Zusammenarbeit mit Gottsched setzte sie im deutschen Theater den hohen Stil des französischen Dramas durch. Wirtschaftliche Not zwang sie dann etwa 1750 ihre Wanderbühne aufzugeben, nach schweren 10 Jahren starb die Theater-Prinzipalin völlig verarmt Nähe Dresden und geriet in Vergessenheit. Posthum setzte ihr sogar Johann Wolfgang von Goethe mit »Madame De Retti« ein literarisches Denkmal. Der Neubau des Ball- und Konzert-Haus Kaiserhof wurde 15. Oktober 1898 eröffnet, 1945 durch Bombenangriff zerstört. Wiederaufbau als Reichenbacher Hof durch die Stadt Reichenbach mit Hilfe des Land Sachsen, durch Spenden aus der Bevölkerung, und freiwillige Arbeitsleistungen. Ab 18. September 1949 Wiedereröffnung als Stadt-Theater Neuberinhaus. Nach nochmaligem Umbau Anfang der 80iger wird der zentral gelegene und gut ausgestattete Gebäudekomplex auch erweitert genutzt und ist seit 1990 mit 50.000 Besuchern jährlich eine regional bedeutsame Einrichtung im Kulturraum Vogtland-Kreis. Seit 1996 ist das Neuberinhaus eine Einrichtung der Vogtland Kultur GmbH und ab 2016 für das Kontinental-Europäische Publikum anspruchsvoller Rockmusik auch die Rock-Kathedrale Vogtland.
Fast alle großen Musik-Festivals wurden 2020 abgesagt, nicht so im Vogtland. Uwe Treitinger hat den dreitägigen Termin vom April in den September verschoben und das ganze Ding knallhart durchgezogen. Wer dabei war, dem brauche ich hier nichts vorschwärmen. Das Programm war trotz Pandemie bedingter Absagen vieler ausländischer Künstler wieder einmal Extraklasse, die Stimmung trotz strenger Auflagen bombig. Uwe hat mit seinen Helfern ein feine Nase was trotz Namen auch Stimmung und Atmosphäre in die Halle bringt. Die Spitzenplätze der drei Tage waren mit Animals & Friends, Stern Meissen, Chris Slade’s Timeline, sehr gut besetzt und positioniert. Mehr Details zum Programm weiter unten im Text. Meine werten Kollegen und ich haben wie jedes Jahr auch über das Art-Rock-Festival 2020 in vielen Magazinen ausführlich berichtet. Dieser Beitrag ist wieder eine Zusammenarbeit. Auch 2021 werden wir vermutlich wieder einen Festival-Bericht schreiben, aber jetzt schon einmal eine große Verbeugung vor den Machern aus dem sächsischen Vogtland. Wir stellen im Beitrag für jedes Jahr zwei oder drei Künstler in den Fokus, ohne Ranking, sondern ausgewählt auch nach emotionalen Momenten. Und die gab es jeweils reichlich !!
Rückblende – Eine Handvoll Musikbegeisterte Region Vogtland haben bei einem Konzert von RPWL in der Leipziger Moritzbastei 2002 die Idee einen Musik-Club für anspruchsvoller Musik zu etablieren. Uwe Treitinger aus Reichenbach setzt das schon im November 2002 mit dem ersten Rock-Konzert von RPWL in seinem Club Bergkeller in die Tat um. Daraus entstehen weitere Formate und auch das Art-Rock-Festival, das eintägig im Juli 2006 mit vier Bands zum ersten Mal in der örtlichen Go-Kart-Bahn veranstaltet wird. 2007 und 2008 folgen üppigere zweitägige Festivals am regionalen Wahrzeichen Göltzschtal-Brücke. Mit einer längeren Unterbrechung wird dieses Festival seit 2016 im zentralen Neuberinhaus nun 2021 wieder dreitägig zum neunten Mal veranstaltet. Heute ein Festival das weltweit Gäste nach Reichenbach im Vogtland lockt und nun Maßstäbe dieser Art Musik-Präsentation setzt. Hier sind Namen nicht wichtig, alles muss sich der Qualität unterordnen [Text Allgemein: SchoTTe]
2016 – Neustart mit 2-tägigen internationalem Programm im Neuberinhaus – Die Festivalverlegung auf den Aprilanfang und in das Neuberinhaus inmitten Reichenbachs verhalf zu Witterungsunabhängigkeit sowie uns Proggies zu mehr Terminfreiheit für Events im Sommer. Veranstalter Uwe Treitinger schrieb optimistisch in seinem Newsletter vom 28-10-2015: “…bis jetzt übertrifft die Kartenbestellung für das Festival meine kühnsten Erwartungen…, Ich denke, dass wir das Festival sehr wahrscheinlich ausverkaufen könnten!” Das hat zwar nicht ganz geklappt, doch mit geschätzten 500 Proggies an jedem der beiden Tage war das Festival dennoch würdig besucht. Das Parterre bot Stehplätze, die Konzerte sitzend genießen konnte man auf dem Rang.
Pünktlich 17:45 Uhr eröffnete Effloresce aus Nürnberg das Festival Freitag mit ihrem 50-minütigen, leicht progmetallischen Gig. Sängerin Nicki Weber mit sehr angenehmer Stimme und zudem an der Querflöte sowie – für Proggies ungewöhnlich, die mit Metal weniger vertraut sind – Ausbrüchen weiblichen gutturalen Gesangs. Das passte durchaus, denn an anderer Stelle hätte es manchmal etwas abwechslungsreicher zugehen dürfen. In jedem Falle ein sehr ordentlicher Beginn, der uns gut in Stimmung brachte! Gleichfalls superpünktlich folgte District 97 aus den USA mit einem mannigfaltigen Mix, anfangs aus Heavy- und Prog-Metal, in der zweiten Hälfte dann proggiger und kompakter. Frontfrau Leslie Hunt – 2007 Halbfinalistin bei »American Idol« – dabei mit sehr schöner Alt-Jazz-Stimme. Das King-Crimson-Cover »One More Red Nightmare« leitete sie mit einer Ansage gegen den US-Wahl-Zirkus und Trump ein: »No More Orange Nightmare!« Zu Recht viel Beifall! Karfagen aus der Ukraine bot sechzig Minuten melodischen Neo-Prog mit Schwerpunkt auf den Keyboards, in seiner Softness ein guter Kontrast zu den Gigs zuvor. Neben Stücken aus dem umfangreichen Band-Fundus gab es mit einem Teil des 2012er Longtracks »Isolation« auch Material aus dem Projekt »Sunchild« von Band-Mastermind Antony Kalugin. Hörens- und sehenswert sowie angenehm entspannend. Die sich anschließende anderthalbstündige Show von Co-Headliner RPWL wurde von einer aussagestarken, auf Musik und Text abgestimmten Video-Projektion sowie Laser-Untermalung begleitet. Die ersten 20 Minuten begannen zunächst “schaumgebremst”, vielleicht deshalb, um Yogi Lang anschließend feststellen zu lassen, was Prog eigentlich sei und es wohl Long-Tracks sein müssten, die es von nun an auch vom Feinsten wurden: »The Gentle Art Of Swimming«, »Three Lights« und weitere aus dem früheren Katalog bis zum abschließenden, grandiosen »The Fisherman«. Das kam beim Publikum überaus gut an und wurde entsprechend enthusiastisch honoriert. Headliner IQ startete mit 35 Minuten Verspätung, denn die Justierung der drei Projektoren auf die drei Leinwände nahm mehr Zeit als geplant in Anspruch, weil eine entsprechend lange Leiter offenbar nicht griffbereit war… Doch das Warten wurde belohnt: Die über die horizontal angeordneten Leinwände laufende Videoshow war überaus kreativ und absolut stimmig und der Sound satt und ausgewogen. Peter Nicholls, obwohl stimmlich leicht angeschlagen, mit hochprofessionellem Auftritt. Von seinen Bandmitgliedern vor allem Michael Holmes an der Gitarre sowie Keyboarder Neil Durant überragend. Das Set begann mit »Sacred Sound« und enthielt im Hauptteil drei Songs von »The Road Of Bones«, weitere fünf Stücke sowie als großartiges Finale »Awake And Nervous« ihres 1983er Debütalbums. Ein perfekter Abschluss eines abwechslungsreichen und sehr gelungenen Festivaltages um 01:10 Uhr!
Die ursprünglich geplante Eröffnung des Samstags durch Personal Signet aus Tschechien wurde krankheitsbedingt abgesagt, weshalb die Italiener von Soul Secret Punkt High-Noon diesen Tag begannen. Die noch draußen weilenden Proggies mussten zunächst erst flugs in den Saal strömen. Der musikalische Stil war zumeist Metal mit Melodienanteil, wofür vor allem das Keyboard verantwortlich zeichnete. Das Finale des 53-minütigen Auftritts war schließlich ein gelungener 12-minütiger Prog-Metal-Titel. Am zweiten Festivaltag erneut ein guter Start! Ally The Fiddle ist eine norddeutsche Band um die Geigerin Almut “Ally” Storch. Musikalisch bewegt sie sich zwischen Rock bis Folk, gern auch progressiv. Das Besondere liegt auf der Dominanz der Violine, die oft den Gesang ersetzt und es liebt, mit der Gitarre zu interagieren. Ally spielt dabei eine fünfsaitige Violine ihres Freundes und Hobby-Instrumentenbauers Ralph Müller. Ihr toller, einstündiger Auftritt hatte hohen künstlerischen Wert und reichlich Spaßfaktor, schöne Soli und viel Zwischenapplaus. Und auf Ally Storch Rock Violistin kann man “alles” über ihre traumhaft langen Haare erfahren… ;-). Credo aus Großbritannien boten anschließend handwerklich soliden Neo-Prog mit musikalischem Schwerpunkt auf dem Keyboard liegend, gespielt von Mike Varty – umtriebig auch bei Landmarq und Shadowland unterwegs –, und tatkräftig unterstützt durch die Rhythmusfraktion an Bass (Jim Murdoch) und Schlagzeug (Gerald “Mully” Mulligan). Der Gitarre (Tim Birrell) wurde im Bandgefüge eine begleitende Funktion zuteil, von einem kurzen Solo im finalen Titel abgesehen. Sänger Mark Colton wusste seine ausdrucksstarke Stimme überzeugend in Szene zu setzen. Für die kommenden Höhepunkte kam der Zeitplan durcheinander, weil für Umbau und Soundcheck mehr Aufwand getrieben und Zeit in Anspruch genommen wurde: SBB – das Legenden-Trio aus Polen (gegründet 1971) – hatte den Platz im Line-Up mit Stern-Combo Meißen getauscht. Die drei Gründungsmitglieder Józef Skrzek (Keyboard, Bass und Gesang), Antymos Apostolis (Gitarre und Schlagzeug) und Jerzy Piotrowski (Schlagzeug) begannen zunächst ostinat, wurden dann jazz-rockig und steigerten die Dramatik stetig. Spektakulärer Höhepunkt das knapp viertelstündige Finale, ein meisterhaftes und inspiriertes Drum-Duett zwischen Piotrowski und Anthimos. Dafür wurden sie vom aufmerksamen Publikum völlig berechtigt gefeiert! Als Zugabe gab es abschließend eine leichte Blues-Nummer. Die de facto Lokalmatadoren von Stern-Combo Meißen (gegründet: 1964) ließen im Anschluss keine Zweifel aufkommen, uns gleichermaßen einen würdigen Auftritt darbieten zu wollen, und stapelten dafür zunächst reichlich Instrumentarium und Technik auf die Bühne. Martin Schreier als verbliebenes Gründungsmitglied erwähnte eingangs den Auftritt der Band von vor 40 Jahren an selber Stelle und erinnerte in einem kurzen Nachruf an ihren sieben Wochen zuvor verstorbenen einstigen Sänger Reinhard Fißler. Ehrensache für die Band, auf einem Prog-Festival vor allem die Prog-Stücke ihres vielfältigen Repertoires aufzuführen: Ihre zwanzigminütige Mussorgski-Adaption von »Bilder Einer Ausstellung« war genau der richtige Einstieg mit einem entrückenden »Das Große Tor Von Kiew« als Höhepunkt. In diesem Stil setzten sie mit weiteren Klassikern fort, zum Teil als live stark erweiterte Longtrack-Versionen wie der historisch nachempfundene »Kampf Um Den Südpol« (vom gleichnamigen Album 1976) oder bedeutungsschwer in »Die Sage« (Album »Der Weite Weg«, 1979). Mit ihrem neuen, jungen Sänger und Keyboarder Manuel Schmid ist der Band ein absoluter Glücksgriff gelungen: Sympathische Ausstrahlung, tolle Stimme, souveränes Keyboardspiel und nahtlose Integration in die Band, welche selbst im Übrigen ebenfalls souverän agierte. Die sechs britischen Prog-Metaller von Threshold boten sodann einen dynamischen Kontrapunkt zum tiefgreifenden Prog der vorangegangenen Aufführungen. Mittelpunkt ihres Gigs ist dabei namentlich Frontmann – nein: “Rampensau” – Damian Wilson mit seiner schönen, warmen Stimme und seiner überbordenden Agilität: Da ihm in seinem Bewegungsdrang die Bühne nicht ausreichte, sprang er mehrfach über die Geländer im Saal, rannte bis hoch zum Rang und erklomm gar die Balkonbrüstung! Unglaublich und er schien dabei nicht einmal aus der Puste zu kommen. Seinem Zitat ist nichts hinzuzufügen: “I have nothing. I mean: Really nothing.
But if it comes to stage, I OWN the stage.” Unterstützt wurde er dabei von durchweg exzellenten Musikern, hervorgehoben seien Karl Groom (Gitarre) und Johanne James (Schlagzeug), letzterer neben seiner intensiven Drum-Arbeit uns oft mit Drumstick-Kunststückchen unterhaltend. Mitreißendes, kurz vor Mitternacht endendes Konzert! 50 Minuten nach Mitternacht betrat Headliner Pendragon die Bühne: Die Stammbesetzung um Nick Barrett (Gesang, Gitarre), Clive Nolan (Keyboards) und Peter Gee (Bass) wurde unterstützt von den schönen Stimmen der beiden attraktiven Backgroundsängerinnen Christina Maria Booth (Magenta) aus Wales und der Engländerin Verity Smith, letztere uns bereits bekannt von den Clive-Nolan-Musicals »Alchemy« (29-11-2014) und »SHE« (28-11-2015), jeweils auf gleicher Bühne. Anstelle von Craig Blundell, welcher im Jahr zuvor zu Steven Wilson wechselte, bearbeitet nunmehr Jan-Vincent Velazco die Drums. Anlässlich des 20-jährigen Albumjubiläums von »The Masquerade Overture« wurde jenes mit fünf seiner sieben Titel beinahe vollständig gespielt, außerdem dessen Bonus-Track »Schizo«. Das Set vervollständigten die Klassiker »The King Of The Castle«, »Faces Of Light«, »Nostradamus (Stargazing)«, »Come Home Jack«, »Breaking The Spell« und »Indigo«. Zugabe war eine episch ausgebaute Version von »Masters Of Illusion«. Ein glanzvoller Abschluss um 02:20 Uhr eines herausragenden Festivals! [Text 2016: Frank Bernhardt][Fotos 2016: Bodo Kubatzki]
2019 – Das Art-Rock-Spektakel kann nun nicht mehr ignoriert werden – Über den April gibt es ein bekanntes Sprichwort. Das dies nicht von ungefähr kommt, zeigt sich auf unserer Anreise nach Reichenbach. Je weiter wir gen Osten fahren, umso mehr Schneeflocken kleben uns an der Scheibe. Ob es eine ratsame Idee war im Auto schlafen zu wollen? Das wird sich an den nun folgenden drei Tagen voller Musik zeigen. Den ersten Tag läuten die melodischen Prog-Rocker Mirror ein. Die fünfköpfige Gruppe performt neues Material für die früh Angereisten. Ein sechsteiliger Long-Track ihres aktuellen Albums füllt ganze 25 Minuten des Sets. Unterstützt von psychedelischen Projektionen im Hintergrund bietet allein dieser Teil ihres Auftritts eine große Dynamik. Sänger Uwe Kitza führt selbstbewusst durch die Songs, während Kollege Stefan Bugal an akustischer und elektrischer Gitarre zwischen ruhig und aufgedreht wechselt. Klanglich ähnlich geht es auf der Bühne danach mit unserem Nachbarland Holland weiter. Silhouette steht die Spielfreude ins Gesicht geschrieben. Egal ob der Blick zu Gitarre, Bass oder Keyboard wandert. Ein breites Grinsen hat sich hier zementiert, während Sänger Brian De Graeve die Weiten des Bühnenlaufstegs erkundet. Allmählich finden sich auch in den ersten Reihen abseits der Bestuhlung mehr und mehr Schaulustige ein. Zum Start des anderthalbstündigen Sets der Kanadier Red Sand haben sich nun die Meisten versammelt. Vom Fahrwasser der vorherigen Gruppen sind die musikalisch nicht zu weit entfernt. Frontmann Steffs theatralische Darbietung gibt dem Auftritt jedoch eine mitreißende Note. Er wandert zu allen Seiten, liegt auf dem Boden, lässt sich gar in eine Zwangsjacke kleiden. Das Publikum dankt es mit ordentlichem Applaus. Als erste Headliner tritt Claudio Simonettis Goblin an. Allein die Anzahl seiner Solo-Veröffentlichungen ist seitenfüllend. Der italienische Filmkomponist liefert mit seinen Mitstreitern eine Mischung aus instrumentalen Stücken an, die weitestgehend als rockige Soundtracks zu definieren sind. Ein Horrorfilm-Vibe ohne den eigentlichen Horrorfilm? Dicke Kirchenorgelteppiche des Tastenmeisters machen es möglich. Auch hier bieten Einspieler per Beamer eine gute Erweiterung. Cecilia Nappo am Bass spielt sich zwischen Keyboard und Gitarre immer wieder in den Vordergrund und beweist wie wichtig und vielseitig auch Lead-Lines am sonst oft untergeordneten Bass sein können. Gegen Mitternacht endet die Reise in musikalische Filmlandschaften und langsam leeren sich die Plätze mit Vorfreude auf das, was noch kommen mag.
Auch der Samstag beginnt deutsch. Polis aus Plauen hatten sicher nicht die längste Anreise. Eigentlich ist es fast frevelhaft die Truppe so früh auf die sich noch einfindenden Besucher loszulassen. Schnell zeigt sich die große Stärke der Band: Jams! Sobald ihre langen Stücke sich in sich selbst verlieren, zeigen sich die Stärken von Christoph und Marius an Gitarre und Keys. Keys bedeuten bei Polis nicht nur ein kleines Stativ mit einem Tasteninstrument. Eine ganze Hammond-Orgel, Moog und ein waschechtes Leslie füllen so einigen Platz auf der Bühne. Der kräftige Sound ist der Beweis, dass sich die Schlepperei ausgezahlt hat. Grundsätzlich lässt sich ihre Musik als Krautrock beschreiben, sie ist Retro aber auch progressiv und mehr und mehr psychedelisch in ihren längeren Stücken. Christian Roschers deutscher Gesang fühlt sich ungewohnt an, bietet aber starke Lyrik und zeigt, dass es so eine Band auch auf Deutsch geben kann… geben sollte. Es wird nicht ihr letztes Mal auf dieser Bühne sein. Ein früher Publikumsliebling hat sich an diesem Mittag gefunden. Ihr aktuelles Album ist stark empfehlenswert bis es wieder auf der Bühne zur Sache gehen kann. Mit Seven Steps To The Green Door betritt eine weitere deutsche Bühne das Rampenlicht. Tatsächlich bleiben sie ihrem Namen treu und spielen siebenköpfig auf. Als Progressive Crossover bezeichnet die Gruppe ihren Stil. In der Tat ist ihre Musik nicht straighter Progressive Rock. Es wird mal härter, mal nahezu jazzig gejammt und mit Marek Arnold am Saxophon gibt es eine schöne Abwechslung zur Gitarre. Das Bergfest des Festivals bietet ein Mann mit Zylinder, Bass und großer Rock-Show. Franck Carducci und seine Mitstreiter regen mit ihren zugänglicheren Titeln zum mitnicken ein. Immer wieder fliegen von links und rechts Gitarrensoli bluesig schallend über die Bühne. Extravagant und klassisch zugleich. Ob Theater-Schwertkampf, Akustik-Acapella oder Didgeridoo-Performance, man kann nicht behaupten, nur eine simple Rock-Show gesehen zu haben. Dabei war Sidekick Mary Reynoud als Sängerin und Tänzerin an diesem Abend gar nicht mit von Partie. Das haben sich die Jungs aber gewiss nicht anmerken lassen. Der erste Headliner des Tages ist ein wahrer Liebling der in Reichenbach versammelten Musikliebhaber. Mystery aus Kanada. Art-/Progressive-Rock mit einer riesigen Ladung an Spielfreude. Jeder der Musiker gibt 100 Prozent, was das Publikum zwei Stunden lang in ihren Bann zieht. Mit Frontmann Jean Pageau hat die Band einen charismatischen Sänger, der auf die Interaktion mit seinen Fans setzt. Gitarrist Michel St-Pere zaubert mit seiner Stratocaster immer wieder melodische Soli in Perfektion. Fans des Genres können hier wirklich nichts falsch machen. Die hohe Qualität des Konzert-Tages gilt es nun zu halten. Den britischen IQ gelingt das ohne Frage. Sie nehmen sich Zeit für sphärische Intros, Riff-Gewitter und lange Tracks. Peter Nicholls singt und führt gekonnt, tief versunken in die Tiefen der »Road Of Bones«. Ein intensives Erlebnis, ausgelöst auch durch präzise Einsätze an Drums, Keys, Bass und nicht zuletzt der Gitarre. Michael Holmes wirkt zunächst so friedlich, dass man ihm die aufblitzenden düster-schweren Riffs gar nicht zugetraut hätte. Auch einen Vorgeschmack auf das kommende Album »Resistance« bietet der rundum gelungene Auftritt.
Schon finden wir uns am letzten Festivaltag wieder. Wieder einmal beginnt die Reise mit zwei deutschen Gruppen. Mit dem Duo Melli Mau und Martin Schnella, sowie der Formation AnTon der Lebenshilfe Bernburg geht es entspannt in die Halle. Auch die Gruppe Cyril stammt aus Deutschland und liefert melodischen Prog mit acht Köpfen. Ihren Song »Stay« haben sie gar eigens für das Festival geschrieben. Wer ein Auge zu den Keyboards wirft, findet hier Manuel Schmid, der ein Jahr später mit Stern-Combo Meissen wieder auf der Bühne stehen wird. Mit Karat begegnet dem Publikum anschließend ein großer Name aus eigenem Lande. Das heimische Publikum scheint textsicher und obwohl sie vom eigentlichen progressiven Thema des Festivals etwas weiter entfernt sind, werden sie wärmstens in Sachsen gefeiert. Etwas Abwechslung zur Auflockerung schadet eben nicht. Mit einer gewissen Anzahl an Brücken beschwört die Gruppe zudem eine Armee aus Feuerzeugen herbei. Weiter geht es mit Artrock von Sylvan. Aufwendige Arrangements zwischen Soft und Hard werden angeführt von Marco Glühmann, dessen Stimme charakterstark in die Halle tönt. Eine gute Prise Melancholie und gute Soli machen neugierig hier mal tiefer in die Diskographie einzutauchen. Mit RPWL geht es nun hoch hinaus. Hoch bis in den Weltraum um genau zu sein. Passend zum aktuellen Album dekorieren die Freisinger ihr Keyboard mit außerirdisch anmutenden Gesichtern. Irgendwo zwischen Prog und Artrock passt der Act gut zum Vorgänger. Die sahnigen Soli von 6-Saiter Kalle Wallner (siehe Bild Seite 6) sind ein Genuss, der leichten Pink Floyd-Vibe mit sich bringt. Hektisch wird es hier seltener aber das muss es auch nicht. Das Publikum taucht sichtlich gerne in die Weiten der vier Großbuchstaben ab. Zeit für das Grand-Finale. Vorher wird es allerdings noch einmal spannend, denn ein Brocken der Hallendecke schien sich zuvor aus ebendieser freigerüttelt zu haben und war auf den Bühnensteg gefallen. Aus sicherheitstechnischen Gründen beschließt Veranstalter Uwe Treitinger der Sache lieber auf den Grund zu gehen. Die Fans bangen um ihre Headliner, der Verantwortliche der Halle muss gerufen werden. Nach ausführlicher Inspektion gibt es grünes Licht, sofern die Zuschauer hinter einer Sicherheitsabsperrung bleiben. Auch die Musiker bekommen eine Grenze aus Tape auf die Bühne geklebt. Schlussendlich darf der hohe Besuch aus England die Fans begrüßen. Arena brettern routiniert los. Trotz aller Umstände und der Zwangsdistanz lassen sich die Fünf Musiker nichts anmerken. Paul Manzi singt mit Energie, verkleidet sich und bietet eine tolle Show, obwohl er gesundheitlich angeschlagen aufgetreten war. John Mitchells Gitarrenkünste sind mit die besten des Festivals und verleihen vielen Songs mit eigenen Melodien das besondere Etwas. Schnell verging die Zeit in Reichenbach. Das Festival hat gezeigt, welche Geheimtipps international zu bestaunen sind, welche Helden es in Deutschland gibt und welche es bald werden könnten. Polis Jams, Goblins Soundtracks oder IQs Intensität werden mir und den anderen Besuchern sicher noch lange im Gedächtnis bleiben. In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass wir 2021 wieder eine solche Show erleben dürfen. Sollte wieder einmal Schnee fallen, hat sich zudem eine Camping-Unterkunft mit Heizung gefunden. Wir sehen uns also wieder. [Texte 2019: Marvin Brauer]
Nachtrag – Ich wage trotz der sich im Moment wieder etwas verschärfenden Pandemie-Entwicklung auch jetzt schon mal eine Aussicht auf das nun in circa 6 Wochen folgende Art-Rock-Festival IX, das voraussichtlich am 20. bis 22. August 2021 stattfinden wird. An drei Tagen soll wieder ein üppiges, abwechslungsreiches, internationales Mega-Programm geboten werden. M.A.Y.A. aus Ungarn, Lazuli aus Frankreich, Kee Marcello aus Schweden (Gitarrist Europe), PFM und RanestRane aus Italien, Martin Barre Band aus England (Gitarrist Jethro Tull) und viele großartige deutsche Gruppen. Aber im Moment alles unter Vorbehalt und ohne Gewähr, die Pandemie kann das Programm immer noch wie beim letztjährigen Festival mächtig durchmischen. Wer sich nicht von dieser Unsicherheit beeindrucken lässt, wird mit einer atmosphärischen Veranstaltung belohnt. Weiterlesen: Klingende Orte – Zeitlose Grüße, Der SchoTTe