The Anita Kerr Singers – All You Need Is Love (1967)

Falls der Sommer 2021 in Mitteleuropa jetzt doch noch einziehen sollte (Wunsch: endlich mal ein stabiles Hochdruckgebiet), dann hätte ich schon mal den passenden Soundtrack parat, der ist zwar über 50 Jahre eingelagert worden aber kein bisschen gealtert, unglaublich schön was die 1927 in Memphis/Tennessee geborene Anita Jean Grilli (Amerikanerin mit italienischen Wurzeln, nach der Heirat mit Al Kerr mit neuem Namen) da 1967 auf Platte pressen liess. Die LP All You Need Is Love die auf der Coverrückseite mit der Präzisierung The Top Hits Sung By The Anita Kerr Singers Who Know Very Well That All You Need Is Love (Plus Some Talent) versehen worden war, hat mich vom ersten Ton an begeistert und mir auf Anhieb klar gemacht, dass hier jeglicher Widerstand zwecklos ist. All You Need Is Love gaben die Beatles vor und die Sängerin, Musikerin, Produzentin, Arrangeurin und Komponistin Anita griff zum Taktstock, instruierte Band, Orchester und ihr Gesangsensemble und liess einige der Hits des Summer Of Love im glasklaren Easy-Listening-Sound erstrahlen, was dabei geboren wurde ist Sunshine Pop der Extraklasse. In den originalen Linernotes der LP wurde gar Shakespeare zitiert: „A hit, a very palatable hit“ aus Hamlet wurde zur Beschreibung der Songs auf All You Need Is Love projiziert, ich denke das trifft den Nagel auf den Kopf, schmackhafteres Loungecorefutter ist nach menschlichem Ermessen fast nicht möglich. Die betörende Songsammlung ist eine von vielen die Anita Kerr mit eigener Formation veröffentlichte, zu ihrer Zeit in L.A. gehörten neben der namensgebenden Chefin auch Betty Jane Baker (kurz B.J. Baker, alto, sie sang auch bei Ray Conniff), Gene Merlino (tenor) und Bob Tendow (bass) zu den Anita Kerr Singers.

All You Need Is Love beeindruckt mit genialen Versionen von „Never My Love“ (The Association), „Autumn Afternoon“ mit fernöstlichen Anklängen und wunderbar nebulösem Satzgesang (ein weiterer Titel der Addrisi-Brothers, den Verfassern von „Never My Love“) oder einem stimmungsvollen „(You Make Me Feel Like A) Natural Woman“ (Goffin/King/Wexler), selbiges gilt auch für den Lennon/McCartney-Titelsong, Big Beat vom Feinsten der dir die Socken rauf und runter rollen lässt. Alles in allem ist der Longplayer 38 Minuten pure Freude falls man bei Erwähnung der Musiksparte Easy Listening nicht grad die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und schreiend wegläuft.

Heutzutage existiert das Genre (Bereich Harmoniegesang, Vocal Pop) eigentlich gar nicht mehr, spätestens mit dem Aufkommen der Synthesizer in den 1970ern ging die Szene langsam aber sicher bachab, Scat-Uuhs- oder -Aahs (genauso wie Orchester) liessen sich irgendwann viel kostengünstiger mittels entsprechender Tastengerätschaft herstellen (im 21. Jahrhundert braucht es nicht mal mehr das, es reicht ein simpler Laptop mit einschlägiger Software), wer brauchte da noch Sänger die wahre Experten in ihren Tonlagen sind, sei es Sopran, Tenor, Alt oder Bass. Anita Kerr beanspruchte normalerweise Sopran für sich.

Ihr musikalisches Talent entfaltete sich schon früh, zu Beginn der Fifties leitete sie eine Chorgruppe die jeweils in der Radiosendung Sunday Down South auftrat, sie hatte ein natürliches Gespür für dir passenden Töne, schrieb Arrangements für Stimmen und Begleitung. Aus diesen Aktivitäten heraus entwickelte sich das Anita Kerr Quartet das später zu den Anita Kerr Singers wurde. In Nashville stieg sie in Kürze zum bewunderten „Mädchen für alles“ auf, sie produzierte schon bald die damalige Oberliga der Countryszene, von Chet Atkins, Roy Orbison bis Johnny Cash und gilt als eigentliche Architektin des Nashville-Sounds. Wer damals in Nashville professionellen Backgroundgesang brauchte, landete früher oder später immer bei den Anita Kerr Singers oder den Jordanaires, die beiden Formationen teilten den Markt unter sich auf. Mitte Sixties lockte Warner Brothers die umjubelte Produzentin nach Los Angeles, ihre damaligen Singers blieben (freiwillig) zurück, nicht jeder hatte das Zugvogel-Gen von Anita Kerr.

Sie kam genau zur richtigen Zeit in Kalifornien an, hier entstand aus unzähligen Komponenten gerade ein neuer Sound der in vielen Teilbereichen auf harmonischem Gesang basierte, zuerst nannte man das Sunshine Pop, später setzte sich die Bezeichnung Westcoastsound durch. Die einzelnen Genres waren längst nicht so abgegrenzt zueinander wie man sich das im Nachhinein gerne vorstellt, die Grenzlinien waren verschwommen, Folk, Pop, Country, Blues, Soul, Jazz, Easy Listening waren absolut gleichberechtigt, The Byrds neben Grateful Dead, Jefferson Airplane und Frank Zappa, Harpers Bizarre, Beach Boys, Mamas & Papas, Simon & Garfunkel, Sergio Mendez, Burt Bacharach und dem Trompeter Herb Alpert, tiefschürfendes hatte genauso eine Daseinsberechtigung wie der beschwingt swingende Sound von Bert Kaempfert oder die Surfmusik der sportbegeisterten Bewegung die sich am liebsten in Strandnähe aufhielt.

Vor allem traf sie in Los Angeles auch auf den kalifornischen Poeten Rod McKuen (er lebte zeitweise in Frankreich, transferierte u.a. Texte von Jacques Brel und anderen französischen Barden ins Englische, 1973 feierte der Kanadier Terry Jacks einen Riesenerfolg mit seinem „Seasons In The Sun“ das im Original bei BrelLe Moribond“ hiess) mit dem sie ab 1967 eine äusserst erfolgreiche Reihe an Alben produzierte, meistens erschienen die LP’s unter dem Namen des gemeinsam betriebenen Studio-Orchesters The San Sebastian Strings. Auf dem Konzeptalbum The Earth rezitierte McKuen Gedichte und Texte die von Anita Kerr musikalisch untermalt worden waren. Die mehrere Jahre andauernde Kollaboration der beiden bescherte ihnen kommerziellen Erfolg und diverse Auszeichnungen.

Um 1970 herum übersiedelte Anita Kerr zusammen mit ihrem zweiten Gatten, dem Schweizer Geschäftsmann, Produzenten und Manager Alex Grob nach Europa und baute in Montreux die legendären Mountain Recording Studios auf welche das Ehepaar dann 1979 an die Band Queen verkaufte.


(Mountain Studios, Inner Sleeve des Albums Jazz von Queen)

Die Anita Kerr Singers hatten mittlerweile ihre Basis in London, sie feierten vor allem in den Benelux-Staaten einige Erfolge. Anita Kerr veröffentlichte auch in den Seventies diverse Alben, sie kümmerte sich nun vermehrt um Musik mit religiösem Bezug, arbeitete aber auch weiterhin als Arrangeurin und Produzentin für andere. So taucht ihr Name auch auf der LP Sunboat des ehemaligen Krokodils Hardy Hepp auf, hier sang auch Tochter Susan Kerr mit.

Anita Kerr hat sich vor einigen Jahren aus dem Musikbusiness zurückgezogen, lebt in Genf und erfreut sich offenbar noch immer bester Gesundheit.

Das Werk von Anita Kerr ist riesig und die Gefahr sich darin zu verirren ist recht gross.
Als Einstieg möchte ich All You Need Is Love empfehlen, das Album ist auch ein Teil der 5-CD-Box The Anita Kerr Orchestra & Singers – The Five Classic Warner Brothers Albums 1966 – 68 (2016, él, in association with Cherry Red Records). Vielleicht weniger etwas für Freaks die nicht ohne Stromgitarre auskommen, für alle anderen aber die sich für ausgefeilten Gesangsarrangements begeistern könnte All You Need Is Love so etwas wie eine Offenbarung sein.

Yes… ALL YOU NEED IS LOVE!
mellow

 

All You Need Is Love (1967, Warner Brothers)
A1) All You Need Is Love
A2) Holiday
A3) (You Make Me Feel Like A) Natural Woman
A4) Never My Love
A5) Stay
A6) How Can I Be Sure
B1) Autums Afternoon
B2) No Salt On Her Tail
B3) The Look Of Love
B4) In The Morning
B5) I Make A Fool Of Myself
B6) The Last Waltz

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Ein Kommentar

  1. Woooooow! Warum kannte ich die denn bis heute nicht?
    Hab gerade mal bissl gejutubt.
    Wohlklang zum Reinlegen. Schaumbad der Töne.
    Und das lustigste an dem Sound ist: Das ist der Orchestersound von Gerd und Thomas Natschinski (DDR), den die für die ruhigeren Nummern in “Heißer Sommer” (DEFA-Schlager-Film 1967) verwendet haben!
    Der Film ist albern hoch N, aber KULT!
    Danke für den Tipp, mal wieder.

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