NEU! – Deutsche Legende 9

Neues von NEU! – Altes im neuen Gewand plus Tribut junger Künstler

Sound Of Düsseldorf – Ausgerechnet Düsseldorf, unter allen deutschen Metropolen, die irgendwann mal für einen Sound oder eine Schule verantwortlich gemacht wurden, findet sich, unglaublich aber wahr tatsächlich…. Düsseldorf !! Ich habe lange dort gearbeitet, wäre nie auf die Idee gekommen das an dieser langgezogenen Siedlung am Rhein, eben Dorf an der Düssel, die Ursuppe der elektronischen Musik entstanden und bis heute ist. Vielleicht hat es auch etwas mit dem südlich in der Nähe liegenden Neandertal zu tun, wo schon vor 50.000 Jahren vermutlich Ambiente-Geräusche erklangen. Klar, oberflächlich betrachtet ist der Sound Of Düsseldorf synonym mit dem musikalischen Output des Kling-Klang-Studios in der Düsseldorfer Friedrichstadt, aber zu einer Schule gehört mehr als nur der weltbekannte Klassenprimus Kraftwerk. In der Hippie-Ursuppe Anfang der frühen 70iger werden in einer spannenden Zeit die Musik-Elektronik und Recording-Technik auch für normale Künstler bezahlbar und der Sequenzer tritt seinen Siegeszug an. Diverse Konstellationen von Pissoff, Organisation und Kraftwerk, die Haupt-Akteure der ersten Generation, drücken sich die Klinke gegenseitig in die Hand, bevor sie sich mit Formationen wie NEU!, Harmonia oder La Düsseldorf auf den eigenen Weg machen oder wie Michael Rother, Klaus Dinger und dem Dortmunder Eberhard Kranemann später auf erfolgreichen Solopfaden wandeln. Dazwischen immer wieder der Name Conny Plank, mit Lebenspartnerin Christa Fast Betreiber des legendären Studios in Wolperath im Rhein-Sieg-Kreis, dessen Produktionen wie ein Gütesiegel viele Brücken zwischen Musikern und der Musikindustrie herstellten. Ein Einfluss, der sich auch durch die zweite Düsseldorf-Generation zieht, am nachhaltigsten wohl in der Kooperation mit der Deutsch-Amerikanischen-Freundschaft (DAF), die mit einigen anderen das Fundament für eine neue Stilrichtung legen, die später als EBM (Electronic Body Music) berühmt und berüchtigt werden sollte. Aber nicht nur bei DAF gaben Maschinen den Takt an, auch in Werner Lambertz Düsseldorfer Studio werden fleißig Synthesizer aufgeschraubt und vom selbstgebauten Sequenzer mit Signalen beschickt. Dieses Wunderwerk der Sequenzer-Technik geht als selbstkreiertes Programm Brontologic auf Tonträgern von Kurt Pyrolator Dahlke (höre später auch bei Bombay 1) oder Werken seiner Truppe Die Krupps in die Musikgeschichte ein und hat es mittlerweile sogar in ein Museum geschafft. Ebenso wie Kraftwerk, die aber nur als Festinstallation. Weitere Künstler: Karl Bartos, Bombay 1, Can, Cluster, Elektric Music, Fehlfarben, Wolfgang Flür, Kreidler, Die Lemminge, Liaisons Dangereuses, Makrosoft, Mau Mau, Mittagspause, Dieter Moebius, Der Plan, Propaganda, Rheingold, Wolfgang Riechmann, Hans-Joachim Roedelius, Sankt Otten, Richard Schneider Jr., S.Y.P.H., Teja Schmitz, Topolinos und noch einige hier ungenannte. Wer jetzt Geschmack bekommen haben sollte, der liest am Ende des Beitrags die Informationen über Electri_City: Elektronische Musik aus Düsseldorf, lässt sich inspirieren und kauft sich das lohnenswerte Büchlein. Begleitend dazu gibt es zwei CD’s von Grönland Records mit zweimal sehr schöner Titelauswahl.

Neu! (1972)

Neu! 2 (1973)

Neu! 75 (1975)

Vorgeschichte – Dieser Beitrag könnte auch unter der Rubrik Tragische Rocker oder Klang Visionäre laufen. Wer sich mit der Geschichte der frühen deutschen progressiven Musik beschäftigt, kommt an einigen Bands aus dem Großraum Düsseldorf nicht vorbei. Allen voran Kraftwerk und NEU!. Diese Art der elektronischen Musik, die später in La Düsseldorf und den Solo-Projekten von Michael Rother, dem verstorbenen Klaus Dinger und einigen anderen Künstlern, eine Melange aus minimalistischen Improvisationen, Ambiente Soundflächen, Feedbacks, Loops, Geräuschen und mehr, lebt dort bis heute weiter. Speist ihre Strahlkraft unvermindert auch aus diesen skurrilen Ideen des legendären Krautrock-Duo NEU!. Diese drei ersten Veröffentlichungen, in knapp drei Jahren zwischen 1972 und 1975 erschienen, haben wohl nachweislich Einfluss auf Legionen von Musikern unterschiedlicher Genres und über mehrere Generationen. Darunter die größten Stars der Rockmusik, die NEU! unverdient zu Lebzeiten international leider nie geworden sind, Japan mal ausgenommen. Unser Kollege Canvey hat ja die einzelnen Karriereschritte von NEU!, die damit gekoppelten Alben sowie Seiten-Projekte sehr schön geschichtlich und ausführlich aufgearbeitet. Dazu gibt es nicht so viel hinzufügen. Vielleicht doch noch die diesjährige Veröffentlichung der 5-CD/Vinyl-Boxen, natürlich wieder von Grönland Records am 23. September 2022, die als nächster Schritt nach der 5-Vinyl-Box aus 2010 die logische Konsequenz war und ist.

Neu! 86 (1995/2010)

Neu! 72 Live! In Düsseldorf (96)

Neu! & Harmonia

NEU! 50: Die Box – Auf der wertigen quadratischen Papp-Stülp-Box »NEU! 50«, im 5-CD-Format zum 50-jährigen Jubiläum der Band, prangt das NEU!-Logo in inverser Farbgebung wie auf dem Debüt, weiße Schrift auf roten Untergrund. Auch hier wieder der NEU!-Typische Minimalismus des legendären Krautrock-Duo Michael Rother und dem verstorbenen Klaus Dinger. Die Alben Eins bis Drei stecken in Klapp-Covern, Nummer 4 (»NEU! 86«) im Single-Cover, die alle den Vinyl-Versionen nachempfunden sind. Sehr schön gemacht, nichts wirkt hier primitiv, der NEU!-Fan freut sich diese CD’s zu benutzen und auf seine Abspielgeräte zu legen. Das Mastering entspricht dem der 2008/10-Ausgaben. Ein üppiges und sehr informatives 48-seitiges Büchlein sowie eine NEU!-Schablone um den prägnanten Schriftzug irgendwo selbst zu platzieren zu können sind ebenfalls beigefügt. Auf das Material der Vinyl-Ausgabe vom japanischen Captain Trip Records hat man diesmal verzichtet. Gut so !! Komplettiert wird diese Fan-Box mit einer prallvollen CD namens »Tribute« mit eigenem 4-seitigen Faltblatt. Hier gibt es Neubearbeitungen von The National, Fink, Idles, Man Man, Mogwai, Guerilla Toss, Alexis Taylor, Yann Tiersen und anderen. Leider hat man auf die tolle Version von »Hallogallo« der Prog-Rocker Porcupine Tree verzichtet. Zu finden auf deren limitierten Edition des Albums »Signify«. Vielleicht hat man NEU!-Fan Steven Wilson nicht gefragt. »NEU! 50« gibt es als CD- und Vinyl-Box.

NEU! 50: Das Tribute Album – Mehr Minimalismus geht fast nicht. Ein schneeweißes Single-Cover, rechts oben steht ganz klein »TRIBUTE«. Auf dem schwarz-weißen vierseitigen Faltblatt viele Informationen zu den 10 Titeln des Albums. Die Künstler Fink, Alexis Taylor, Mark Bowen (Idles), Stephen Morris, Yann Tiersen sind dort sogar zitiert. Überraschend für mich, die zehn Interpretationen der Kompositionen klingen frisch und zeitlos. Also haben diese Boxen einen echten Mehrwert, zwar kein NEU!-Album von Rother/Dinger, aber ein würdiges und zeitgemäßes Lebenszeichen in Sachen NEU!.

NEU! 50: Die Aussagen von Jüngern – “NEU! ist so wunderbar. Sie machen mich sehr glücklich. Ich liebe es, wenn Menschen den Raum und die Einfachheit verherrlichen. Yay! für NEU!” [John Frusciante – Red Hot Chilli Peppers] +++ “NEU! ?? Für mich klingen sie nach Freude. Wie endlose Linien, die sich ewig parallel erstrecken. Zerbrechlich wie eine BRandNEUe Autobahn und du bist der erste Mensch, der sie entlangfährt…” [Thom Yorke – Radiohead] +++ “NEU! sind visionäre Ikonen des Minimalismus in der psychedelischen Wildnis und darüber hinaus, die uns mit ihren heldenhaften Beats und dem unverblümten Groove auf der Schnellstraße zu unseren kollektiven Schädeln inspirieren.” [Lee Ranaldo – Sonic Youth]

Electri_City Buch

Electri_City: Elektronische Musik aus Düsseldorf 1 – Verlag Suhrkamp selbst über seine Enzyklopädie der Düsseldorfer Rock-Szene. So wie New Orleans für Jazz und Blues, gilt das Düsseldorf der 70er und 80er als Mekka der elektronischen Pop-Musik. Hier schraubte Kraftwerk im legendären Kling-Klang-Studio an Klassikern wie »Autobahn«, »Trans Europa Express« oder »Wir Sind Die Roboter«, hier schuf Neu! den Motorik-Beat, hier brachte DAF den Sequenzern das Schwitzen bei, eben wie Fehlfarben sang: Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran !! Und je größer der Abstand, nach Kilometern wie nach Jahren, umso mythischer erscheint dieser Ort. Autor Rüdiger Esch, selbst Düsseldorfer und als Mitglied von MakroSoft, Male, Feine Deutsche Art und Die Krupps Teil der Szene, beleuchtet deren verzweigte Entwicklung von den Anfängen um 1970 bis zum Ende der analogen Phase um 1986. Und zwar sowohl von innen, als Spur aus exklusiven O-Tönen ihrer Protagonisten wie Wolfgang Flür (Kraftwerk), Bodo Staiger (Rheingold), Gabi Delgado (DAF), Jürgen Engler (Die Krupps), Ralf Dörper (Propaganda), wie zugleich von außen, in exklusiven Statements von Giorgio Moroder, Ryuichi Sakamoto, Andy McCluskey (OMD), Martyn Ware (The Human League), Glenn Gregory (Heaven 17) und viele andere, nebst Dokumenten aus der Rezeptionsgeschichte. So wird sowohl die Wirklichkeit des Mythos wie die Wirklichkeit hinter dem Mythos sichtbar, die Weltmetropole des Modernismus genauso wie das Dorf am Rhein in Düsseldorf. [ISBN-13: 978-3518464649]

Electri_City 1 (2014)

Electri_City 2 (2016)

Electri_City: Elektronische Musik aus Düsseldorf 2 – Dieses Werk ist ein echtes Muss für alle Elektro-Fans, hochinteressante Hintergrund-Informationen zu vielen Klassikern des Krautrock beziehungsweise Synthie-Urgesteinen. Es liest sich hervorragend, nicht zuletzt deshalb, weil fast ausnahmslos die Protagonisten zu Wort kommen. Alles was hier geschrieben steht ist wahr, oder so ähnlich sagt es augenzwinkernd Wolfgang Flür von Kraftwerk im seinem Vorwort. Und gerade in Bezug auf das Schwergewicht Kraftwerk ist das Buch dennoch in diesem Kontext sehr aufschlussreich. Tatsächlich macht Kraftwerk nur einen sehr kleinen Teil des Buches aus. Ist nicht schlimm, denn über die Kraftwerker um Schneider & Hütter gibt es ja viele andere fundierte Bücher. Aber ansonsten, unzähliges homöopathisches Wissen, massenhaft Anekdoten, Ansichten & Einsichten, Entwicklungen der durchschlagskräftigen Düsseldorfer Elektro-Szene, die sich aus dem verschiedenen Lagern zusammenfand. Ohne die reichen Gutbürgerkinder der Landeshauptstadt kein Equipment, ohne die Arbeiterkinder kein Sturm & Drang. Und so eine Vermischung war fast nur hier in Düsseldorf möglich, wo die Ultrareichen und das Prekariat zwar sehr stark getrennt aber doch eng zusammenlebten und sich im alltäglichen Leben vermischten. Es kommen viele wichtige Szene-Beteiligten, mit der zu erwartenden Ausnahme Ralf Hütter & Florian Schneider zu Wort. Auch der früh verstorbene Wolfgang Riechmann wird endlich einmal ausreichend gewürdigt und vor allem die Technik wird schon fast fetischhaft zelebriert. Welcher Synthesizer war wann wie teuer, wie viele VCOs oder welchen LFO hatte er, was konnte er und so weiter. Autor Rüdiger Esch, geboren 1966 in Düsseldorf, ist eben Musiker. Er studierte Philosophie und spielte 1986/87 mit Ex-NEU!-Drummer Klaus Dinger; seit 1988 Bassist der Elektronikband Die Krupps, Mitglied der Punkband Male und des Studioprojekts MakroSoft. Er lebt mit seiner Familie auf Graceland im Süden von Düsseldorf. Noch einmal werden die glorreichen Tage in Conny Planks Pferdestall aufgezählt, und Propaganda wird endlich in die richtige Schublade eingeordnet. Dass sogar Belfegore hier ausreichend Platz bekommt ist bemerkenswert. Das Fehlen der Soloabenteuer von Tommi Stumpff und einiges andere aber auch. Was bedauerlich ist, da ja nicht nur Male/Krupps die Entwicklung hin vom Punk zum Industrial vollzogen, sondern andere auch (beispielsweise S.Y.P.H. oder Bombay 1). Die Informationsfülle ist jedoch außergewöhnlich und der Überblick über die Düsseldorfer Szene ist sehr dicht.

Krautwerk Live 2017

Krautwerk: H. Grosskopf

Krautwerk: E. Kranemann

Weiterlesen RZ: Deutsche LegendenKlang Visionäre – Rhythmische Grüsse, Der SchoTTe

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