Archive – Klang Visionäre 1

Londinium verbindet man im ersten Moment nicht mit Klang-Eruptionen

In dieser neuen Reihe stelle ich ausgesuchte Visionäre der Klänge vor. In der begleitenden Reihe Klingende Orte habe ich ja schon den Klang-Tüftler und Minimalist John Cage mit seinem Projekt ORGAN² – ASLSP vorgestellt. Auch dort wird es immer wieder Begegnungen mit Klang-Visionären geben, wie auch beispielsweise bereits im Rock-Pop Museum Gronau (dort das legendäre Can-Studio). Ich selbst habe solche besonderen Künstler auch wieder in den Global-Pandemie-Jahren mit Amarok (aktuell »Hero«), smalltape (aktuell »The Hungry Heart«) und POND (mit Laser-Spektakel) Live-Ton und Farbig erlebt. Ich nehme hier bei diesem Thema keine Rücksicht auf Genres oder BPM (Beats Per Minute) sondern nur auf besondere Klang-Landschaften oder ungewöhnliche Projekte.

Schon im Kindesalter kommen Darius Keeler und Danny Griffiths beide mit Musik in Berührung. Darius muss sogar auf Druck seiner Eltern zuerst einmal klassische Instrumente lernen. Mit denen kann er sich erst einmal, in seiner frühen Leidenschaft für das Musizieren, austoben. Trompete und Waldhorn bereiten ihm dann den Weg, der ihn in ein klassisches Orchester führt, wo er zum ersten Mal Disziplin im Kollektiv und Arrangements für Blechblas- und Streichinstrumenten kennen lernt. Aber die musikalische Reise der beiden Londoner geht natürlich weiter.

1992 bis 1999 – Die Süd-Londoner Formation Archive ist hier im ersten Beitrag gleich ein gutes und exemplarisches Beispiel. Das visionäre Gründer-Elektro-Duo Darius Keeler und Danny Griffiths hat sich bis 1994 in Croydon unter anderem aus den verschiedenen modernen gemeinsamen Projekten Awareness (1992), Eventide, Life Form und Shikasta (1993) deutlich weiterentwickelt, viel auf ihrer Klang-Mission mitgenommen, fast vor keinem Genre Halt gemacht und schon mit dem Debüt »Londinium« (1996, 25th Edition 2021 auf Music On Vinyl) klanglich visionäre Akzente gesetzt. Zusammen mit der Sängerin Roya Arab, dem Rapper Rosko John und vielen Gästen entstand etwas Neues zwischen rhythmischen Elektro-Spielarten und beinharten Alternative-Rock. Sie gingen wie beispielsweise ihre visionären Vorbilder Massive Attack, Tricky, Future Sound Of London oder Faithless einige Schritte weiter, erweiterten den Trip-Hop um einige Zutaten. Um voraus zu greifen, sie ebnen in diesem Zweig indirekt den Weg für britische Formationen wie Antimatter und Recoil, Amarok und Lunatic Soul aus Polen, NoSound aus Italien oder eben smalltape und Mt. Amber aus Germanien. Auf einige andere werde ich noch in anderen Beiträgen eingehen. Der Song »Londinium« wurde in der Demo-Version der Playstation 1 verwendet und das Musik-Video dazu: Regie Matt Cook. Schon gleich mit ihrem abwechslungsreichen Debüt haben die Londoner Archive aufhorchen lassen, auf ihrem zweiten Album »Take My Head« (1999, Indipendiente) arbeiteten sie dann mit der Sängerin Suzanne Wooder, Drummer Mathan Martin und diverse Gastmusiker an French Horn, Harmonica, Cello, Percussion, Violine, Flöte, Orgel, Gitarren zusammen, einige sind bei späteren Produktionen auch immer wieder dabei. Überraschenderweise zündete das Album damals nicht wirklich, gilt aber als Vorbereitung für deren weiteren Werke. Für mich ist das Album eine logische Weiterentwicklung, die dann zu den Meisterwerken »You All Look The Same To Me« (2001) und »Noise« sowie »Unplugged« (2004) führte. Ich lese in diesem Zusammenhang immer wieder das hier alles deutlich abgefahrener, experimenteller, rockiger, hypnotischer, schräger, progressiver klingt. Stimmt nicht ganz, denn all das war auch schon bei den ersten beiden Alben das prägende Markenzeichen.

Maria Q (Anastacia)

2000 bis 2005 – Es gibt wohl nur wenige Klang-Formationen wie Archive, die es schaffen, mit minimalen Variationen innerhalb eines Liedes, eine überragende spannende Atmosphäre zu schaffen. Das fängt auf »You All Look The Same To Me« gleich mit dem viertelstündigen »Again« an. Die rhythmische Maschinerie zieht den Hörer von Beginn an immer tiefer in verschachtelten Strukturen, begeistert mit seinen kontinuierlichen, langsamen Steigerungen. Auch die sonore Stimme von Craig Walker (Power Of Dreams) passt ideal dazu. Der schafft es trotz signifikanter Elektro-Beats-Instrumentierung noch mehr düstere Melancholie aus diesem epischen Werk herauszupressen. Im Anschluss daran die Single-Auskopplung »Numb« (sehr stark) und weiter beim herrlich schwebende, sphärische mit Streichern verstärkte »Meon«. Auch erneut behutsame Steigerung, mit einsetzen der zweiten Stimme von Maria Q entsteht dann eine perfekte Melange an Stimmungen. Auch das zweite noch längere Epos »Finding It So Hard« ist durch ziemlich treibenden Rhythmus gekoppelt mit dem Gesang als Kontrapunkt ein weiterer Hinhörer. Auf der zweiten CD der Deluxe-Ausgabe sind vier weitere Titel die nahtlos anknüpfen und nicht abfallen. Besonders gelungen auch hier das knapp elfminütige Stück »Junkie Shuffle«, Stilmittel erneut dynamischer Aufbau und wechselnde schwebende Klänge. Aber auch das Lied »Sham« ist Klasse. Beide Titel sind ursprünglich auf Maxi und EP erschienen. Ein Album ohne einen einzigen schwachen Song. Auf dem Album gibt es keine Rap-Einlagen wie auf den beiden vorherigen Veröffentlichungen von Archive. Walker stieg auf Grund persönlicher Differenzen schon Ende 2004 wieder aus, die Briten sortierten sich in einer fast 2-jährigen Pause neu.

Take My Head (1999, Design: Elaine Macintosh)

Noise (2004, Design: James Tonkin)

Restriction (2015, Design: Brian Cannon)

2006 bis 2016 – Bald schon stießen Dave Pen und Pollard Berrier dazu, die sehr lange zur festen Besetzung zählen sollten und neben Gesang und Gitarre auch am Songwriting neben den beiden Steuermännern beteiligt waren. Und Maria Q stieg ebenfalls wieder mit in das Archive-Kollektiv ein, haucht den Kompositionen im wahrsten Sinne des Wortes auf betörende Art und Weise Emotion ein. Das Album »Lights« (2006) wird also wieder Stimmgewaltig. Der gewaltige Titelsong, auch auf der Retrospektive »25« (2021) zu finden, war mit seinen mehr als 18 Minuten wieder einmal ein episches Meisterwerk. »Controlling Crowds« war dann 2009 Inbegriff von Band-Vielfalt, und hier war dann auch Rapper Rosko John erneut mit am Start, was den Facettenreichtum der Vorgänger noch steigern konnte. Mit »Bullets« zog allerdings ein progressives Stück am meisten Aufmerksamkeit auf sich und wurde die bislang erfolgreichste Single einer Band, deren Stücke oft alles andere als singletauglich sind, weil sie im kurzen Format zu viel ihrer Intensität verlieren würden. »Controlling Crowds – Part IV« schloss noch im gleichen Jahr an. Mit diesem Material und stabiler Mannschaft waren sie dann bis 2012 auf den Bühnen weltweit zu sehen und zu hören. Es entstanden etliche Live-Konserven die diese Zeit dokumentieren. Dann folgte das mit gemischten Kritiken aufgenommene »With Us Until You’re Dead« (2012), dass die neue Sängerin Holly Martin präsentierte. 2014 unterlegte Archive musikalisch den 40-minütigen Kurzfilm »Axiom«. Das hatten sie ja schon erfolgreich 2003 mit »Michel Vaillant« schon einmal probiert. Nun lag das letzte klassische Erfolgsalbum sechs Jahre zurück, Archive wurde aber trotzdem nicht einem schwarzen Loch und fehlenden künstlerischen Anspruch gezogen. »Restriction« (2015), das Remix-Album »Unrestricted« (2015) und »The False Foundation« (2016) knüpften wieder deutlicher an den von den Fans geliebten Archive-Stil des ersten Jahrzehnts im Millenium an. Ich sehe aber auch über diese 10-jährige Phase nur einen Zeitraum in dem sich Archive verändert, ausprobiert, Grenzen auslotet, immer ohne ihre Wurzeln zu vergessen oder verleugnen. Manche Kritiker sehen das anders.

Dave Pen (BirdPen)

Dave Pen & Steve Davis

Steve Barnard & Pollard Berrier

2016 bis 2022 – Das Jahr der silbernen Hochzeit 2021 feiert das britische Kollektiv mit einer Retrospektive der Superlative namens »25« (2019, verschiedene Formate), größtenteils ruhig und sphärisch dahin schwebend, die langen Epen kommen hier ebenso nicht zu kurz, altes aber superb mundendes Futter. Auch die acht neuen Stücke, fast ein komplettes neues Album, passen gut in dieses Gerüst und kommen sehr ansprechend rüber. Mit der Single »Remains Of Nothing« in Zusammenarbeit mit der Band Of Skulls und dem mit dem schottischen Musiker Steve Mason (bekannt von Beta-Band) aufgenommenen »Lightning Love« gehören zwei ebenfalls außergewöhnliche Kollaborationen zu den Neuheiten. Darius Keeler: It’s also been a great opportunity to collaborate with some new people, I think the track with Band Of Skulls is one of the best things we’ve ever done, and working with Steve Mason was a real honour too”. Auch das getragene »Erase« und das 15-minütige »Heart Beats« sind weitere Belege und zeigen die kontinuierliche Kreativität und visionären Hunger nach wundervollen, zeitlosen Klang-Landschaften. Die Jubiläums-Kampagne wurde begleitet durch das Remix-Album »25: Rarities« und »25: Live«. Das 20-teilige Live-Album, aufgenommen während der Mammut-Europa-Tour Mai bis Dezember 2019 (53 Auftritte), konnte man für mehrere Monate kostenlos als WAV/MP3 von der Bandseite digital herunterladen. Die Offensive wurde dann mit »Versions« und »Versions Remixed« (2020) abgeschlossen. Auch diese Kampagne zeigt die Ausnahmestellung dieser britischen Klang-Visionäre – was für ein großartiges Material !! Das Kollektiv aus dem südlichen London war in der Pandemie sehr fleißig, D. Gee Mono alias Danny Griffiths mit »A Little Less Fire« (03-2021) und Archive mit »Call To Arms & Angels« (03-2022).

BHBF_10: Darius Keeler & Steve Harris

BHBF_10: Pollard Berrier, Steve Barnard, MariaQ

Ich hatte damals alle Alben des modernen Projekts Archive aus dem Ballungsraum London. Mich haben die Spannbreite und die musikalische Qualität dieser Formation total begeistert und war gespannt wie sie ihre komplexen Kompositionen hier beim Herzberg Festival 2010 präsentieren werden. Leider war ich den kompletten Auftritt vorne erste Reihe im Reportage-Modus, deshalb kann ich natürlich das Klangbild nicht ultimativ beurteilen. Aber es war selbst vorne ein Leckerbissen. Und das eine ausgebildete weibliche Stimme ein Zugewinn ist, zeigte Maria Q (Anastacia) als einzige Frau in diesem 9-köpfigen Rock-Ensemble deutlich. Neben den Gründern Darius Keeler und Danny Griffiths waren Rapper Rosko John, die Gitarristen Dave Pen (BirdPen), Pollard Berrier (Bauchklang) und Steve Harris (Gary Numan) sowie Tieftöner Steve „The Menace“ Davis, Trommler Steve „Smiley“ Barnard auf der Bühne aktiv, ein Elektro-Kammer-Orchestra. Klingende & Rhythmische Grüsse, Der SchoTTe

(Visited 255 times, 1 visits today)

Kommentar hinterlassen