Jesus Christ Superstar (1970)

Heutzutage wäre das kaum mehr möglich, also die Verknüpfung von Religion und populärer Kultur. Der Türöffner für solche Projekte war in den 1960ern vermutlich die Hippiebewegung die auf den Spuren von Hermann Hesse und im Zusammenhang mit fernöstlichen Softdrogen auf höchst mystische Gurus stiess, klar, das war cool. Und als die britische Pop-Elite um die Beatles und den Liederbarden Donovan nach Indien pilgerte um sich vor Ort ein Bild zu machen und spirituelle Weihen abzuholen, war das sogar supercool, auf Dauer blieben allerdings nur wenige hängen.

Das Christentum in ähnlicher Weise mit irgendeiner Form der Jugendkultur zu verbinden und dabei kommerzielle Aspekte nicht ausser Acht zu lassen schien eigentlich unmöglich, sicher jedoch immens schwieriger. Die Kirche in den 1960ern, egal welcher Richtung, ob katholisch oder evangelisch, war ja ein eigentliches Feindbild des Hippietums das weder staatliche noch theologische Leitplanken akzeptierte und stattdessen eine Spielwiese für Freidenker war.
Ich persönlich zum Beispiel mag die DoLP Self Portrait von Bob Dylan, seine Fans goutierten das nicht, in seinem  Fall verursachte die Hinwendung zum Glauben einen Karriereknick, er hielt aber daran fest, bis heute. Robin Williamson von der Incredible String Band wurde in Los Angeles von einer berüchtigten Pseudokirche an Land gezogen, es leitete das langsame Sterben der britischen Hippie-Institution ISB ein. Der Singer/Songwriter Cat Stevens wechselte irgendwann die Religion, seine Anhänger nicht, als Yusuf Islam war das Geschäft für ihn gelaufen. Schlussendlich ist die Fusion von Popkultur und Religion ein heisses Eisen, eine Erkenntnis die sogar der Popstar Madonna machte. Einzig wer sich auf das Genie Johann Sebastian Bach berief kam mit einem blauen Auge davon, der war zwar ein Mann der Kirche gewesen aber schon lange tot. Okay, die Gospelmusik blieb selbstverständlich auch verschont von Kritik, denn Gospel war ja die Wiege für immens viele Blues-, R&B- und Soulmusiker.

Der britische Komponist Andrew Lloyd Webber und der Texter Tim Rice hatten bereits 1968 versucht ein biblisches Thema mit Popmusik zu verknüpfen: Das Musical Joseph And The Amazing Technicolor Dreamcoat schwebte noch irgendwo zwischen Parodie, Psychedelic und Schülertheater und erzielte den angestrebten Erfolg nicht, gelangte aber nach dem Durchbruch von Jesus Christ Superstar nochmals zu Bühnenehren.

Angestachelt durch den Erfolg des Broadway-Musicals Hair versuchten es Webber und Rice noch einmal, zeigten Mut und wählten jetzt aber anstelle einer altbiblischen Geschichte das Herzstück des Christentums, die sieben Tage bevor Jesus Christus gekreuzigt wurde.

Webber und Rice setzten auf die Karte Rock, ähnlich wie das The Who mit ihrer Rockoper Tommy gemacht hatten. Die Aufnahmen von Jesus Christ Superstar präsentieren denn auch eine Schar junger Artisten, allen anderen voran die Sänger. In der Hauptrolle der bestechend aussehende Ian Gillan (Jesus) der sich gerade mit der Band Deep Purple aufmachte die Welt zu erobern, der Londoner Nachwuchsschauspieler und Sänger Murray Head (Judas), Mike D’Abo (Herodes, er war das ehemalige Aushängeschild von Manfred Mann), Victor Brox (Caiaphas) von der Aynsley Dunbar Retaliation oder Yvonne Elliman (eine Entdeckung von Webber/Rice) in der Rolle von Maria Magdalena. Und unzählige andere natürlich, unter den Studiomusikern finden sich die Namen von Bruce Rowland (Drums), Bassist Alan Spenner und Gitarrist Henry McCullough (alle Mitglieder von Joe Cocker’s Grease Band), man stösst aber auch auf Tony Ashton, Chris Spedding oder Madeline Bell und unzählige andere die sich damals in den Londoner Tonstudios herumtrieben. Auch Mike Vickers war an der Produktion beteiligt, sein Spezialgebiet war der Moog Synthesizer, Alan Doggett hingegen war für die passenden klassischen Orchester-Töne des City Of London Ensemble verantwortlich.

Songs und Texte wurden dem Zeitgeschmack entsprechend progressiv umgesetzt und waren sozusagen ein Geschenk des Himmels da sich die Sänger mangels visueller Unterstützung bei der Umsetzung der einzelnen Charaktere so richtig ins Zeug legen mussten. Jesus Christ Superstar war natürlich stark melodielastig, schliesslich hatten Webber und Rice die Geschichte von Anfang an als Musical geplant, das originale Doppelalbum war sozusagen das genaue Drehbuch für die folgenden Bühneninszenierungen. Die Fusion zwischen Rockband, Orchester und Sängern finde ich durchaus gelungen, der Zuckerguss mit dem viele spätere Musicals überzogen wurden fehlt hier glücklicherweise.

Zu Werbezwecken wurden zwei Promotionfilme (später nannte man das Musikvideo) gedreht, der eine mit Ian Gillan der „Gethsemane (I Only Want To Say)“ präsentierte (allerdings kursiert davon – vermutlich wegen des Urheberrechts – nur eine mangelhafte Kopie), der zweite mit weiblichem Gospelchor und Murray Head der zum Titelsong „Jesus Christ Superstar“ auf einer baufälligen Kirche herumkletterte, ich schätze das Gebäude hatte im 2. Weltkrieg Schaden genommen und war nicht renoviert worden. Ob das symbolischen Charakter haben sollte entzieht sich meiner Kenntnis, jedenfalls war es eine ziemlich hirnverbrannte Idee des Regisseurs, der Star war nicht gesichert und hätte abstürzen können.



Um Jesus Christ Superstar entbrannte eine heftig geführte Diskussion, kirchliche Kreise kritisierten vor allem Darstellung ob man Jesus Christus überhaupt so vermenschlicht darstellen dürfe, die im Musical geschilderte Liebesbeziehung mit Maria Magdalena war so oder so inakzeptabel. Die Rockoper ging vielen zu weit, für manche wurde eine Grenze überschritten, die herzzerreissend schreienden und schluchzenden Sänger die sich in ihre Rollen knieten waren nicht kompatibel mit dem Bild das die Kirche vermittelt haben wollte. Junge Menschen ansprechen ja, aber bieder und adrett bitteschön, mit seligem Lächeln im Gesicht, so wie es die Vertreter der JesusPeople-Bewegung machten.


Die 1970 im Studio aufgezeichnete Geschichte bildete die Vorlage für die nachfolgenden Bühnenaufführungen, weitere Neueinspielungen von Bühnenprojekten (analog Hair), freien Bearbeitungen aus dem Jazz- und Soulbereich sowie die Verfilmung von 1973 bei der als einzige Künstlerin von der originalen Studioproduktion Yvonne Elliman mitwirkte. Jesus Christ Superstar erlebte immer wieder Neuinszenierungen, am Karfreitag 2020 zeigte der TV-Sender ARTE eine modern gestaltete und absolut sehenswerte Broadway-Aufzeichnung von 2019 mit dem Soulsänger John Legend als farbigem Jesus und mit Vincent Furnier (aka Alice Cooper) in der Rolle von Jesus‘ Counterpart Herodes.

Das gewählte Thema schadete keiner der individuellen Karrieren, keiner der involvierten Künstler wurde wegen seiner Beteiligung in die religiöse Ecke gerückt. Für Ian Gillan war es ein früher Testballon der ihm bewies, dass es notfalls auch ohne Deep Purple im Rücken klappen könnte. Murray Head blieb weiterhin zweigleisig, einerseits als Schauspieler (z.B. in Sunday, Bloody Sunday von John Schlesinger) und andererseits als Sänger, er landete 1984 mit „One Night In Bangkok“ einen No-1-Hit. Yvonne Elliman startete eine Solokarriere (auf ihrer ersten LP von 1972 findet man ein wunderschönes Cover von „Can’t Find My Way Home“ aus der Feder von Steve Winwood) und sang in der Band von Eric Clapton. Andrew Lloyd Webber und Tim Rice blieben der Musikwelt erhalten, Webber in erster Linie als Komponist von Musicals (Cats), Rice als Buchautor und vor allem als Texter für John Barry (James Bond: „Octopussy“, gesungen von Rita Coolidge), Vangelis, Elton John, Freddie Mercury und unzählige andere. Zusammen schrieben Webber und Rice übrigens auch das Musical Evita das 1976 sämtliche Rekorde brach.

LONG LIVE ROCK!
mellow

 

Jesus Christ Superstar (1970, DoLP, Decca)
A1) Overture
A2) Heaven On Their Minds
A3) What’s The Buzz / Strange Thing Mistifying
A4) Everything’s Alright
A5) The Jesus Must Die

B1) Hosanna
B2) Simon Zealotes / Poor Jerusalem
B3) Pilate’s Dream
B4) The Temple
B5) Everything’s Alright
B6) I Don’t Know How To Love Him
B7) Damned For All The Time / Blood Money

C1) The Last Supper
C2) Gethsemane (I Only Want To Say)
C3) The Arrest
C4) Peter’s Denial
C5) Pilate And Christ
C6) King Herod’s Song

D4) Judas’ Death
D5) Trial Before Pilate (Including The 39 Lashes)
D6) Superstar
D7) Cruzifixion
D8) John Nineteen Forty-One

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