Carpenters – Now & Then (1973)

Nein, ich habe nicht völlig den Verstand verloren auch wenn ich hier eine Laudatio für ein Album der Carpenters verfasse. Ja die beiden Supersofties, das amerikanische Geschwisterpaar Richard und Karen Carpenter das in den 70ern weltweit gigantische Erfolge abfeiern konnte, dem nicht mal einmal ein Privatkonzert bei Richard Nixon etwas anhaben konnte. Sie brachten mit ihrem Sound Fahrstühle zum Schweben, sie liessen dich in superweichen Loungesesseln versinken und alles um dich herum vergessen. Dampfbügeleisen, dazugehörige Bügelbretter und die zu bügelnden Wäschestücke begannen selbst bei diesen handwarmen Temperaturen zu verschmelzen. Richard und seine Schlagzeug spielende Schwester Karen waren Giganten des Easy Listening, sie waren „Top Of The World“ sozusagen.

Das Album dem ich eine kleine Lobeshymne widmen möchte ist NOW & THEN, ein durch und durch gelungener Longplayer aus dem Jahr 1973 von dem mittlerweile 108 länder- und mediumspezifische  Versionen in Form von Vinyl, Kassette, CD oder Download existieren.

Der Einstieg mit dem Millionenseller „Sing“ – inklusive Kinderchor – aus der Feder von Joe Raposo, die meisten Songs auf NOW & THEN übrigens Fremdkompositionen, Richard Carpenter hielt sich sehr zurück auf diesem Album, er betreute in erster Linie die Tasten und kümmerte sich um die grandiosen Arrangements. Gleich darauf das melancholische, von Leon Russell geschriebene „This Masquerade“ mit Richards jazzy Pianosolo und den Rahmen bildenden Softtone-Querflöten, für mich DER Favorit im Carpenters-Universum und so etwas wie das freigelegte Herz von NOW & THEN.

Are we really happy here
with this lonely game we play?
Looking for words to say…
Searching but not finding understanding anyway
We’re lost in a masquerade
Both afraid to say we’re just too far away…
From being close together from the start…
singt Karen und die bunten Tapeten an der Wand verlieren augenblicklich die Farbe bei ihrem unterschwellig klagenden Gesang, werden bleich beim Gedanken an Karens tragisches Ende. In diesem Sinne ist der Text vielleicht eine vom aussenstehenden Komponisten früh erkannte aber sorgsam getarnte Botschaft zur Befürchtung, dass die Farbe am goldenen Carpenters-Käfig nicht ewig halten sondern auch abblättern könnte. „This Masquerade“ ist bei genauerem Hinhören alles andere als lustiger Easy-Listening-Sound, es ist vielmehr ein intimer Blick hinter die Kulisse, ein Blick in abgrundtiefe menschliche Abgründe, nichtsdestotrotz eine der wunderbarsten, atemberaubendsten und gleichzeitig beklemmendsten Gesangsleistungen von Karen. Es folgt das romantische, instrumental/orchestrale „Heather“ das man problemlos auf eine Platte der Moody Blues unterbringen könnte, Hank Williams‘ „Jambalaya“ im luftigen Pedal-Steel-Country-Gewand und „I Can’t Make Music“ als Abschluss der originalen Seite 1 des Longplayers.

Nach dem Wenden der LP geht es dann auf Seite 2 mit einer kleinen Überraschung weiter, eine Huldigung in Form eines Medleys ans gute alte Radio und die Musik die Richard und Karen in den 60ern beeinflusst hatte, Beach Boys, Phil Spector oder Bobby Vee, dessen „The Night Has A Thousand Eyes“ sie sich hier unter den Nagel reissen und aus einer durchschnittlichen Nummer einen grandiosen Song zaubern. Ausserdem lassen die Geschwister ihren Gitarristen Tony Peluso (1950 – 2010) von der Leine, der darf sich nach Herzenslust austoben, als durchgeknallt/hysterischer D.J. zwischen den Songs (inklusive Gewinnspiel bei dem der Hörer voll die A-Karte zieht) aber auch auf seiner Gitarre, beim Solo in „Da Doo Ron Ron“ drückt er mächtig auf’s Gaspedal und fährt die heile Spiessbürgerwelt mit 180 Sachen gegen die Wand. Und dann wären da auch noch die brüllenden Motoren bei Ian & Deans Teenager-Drama „Dead Man’s Curve“ das die Carpenters für dieses Medley coverten, etwas das man beim Vorzeige-Geschwisterpaar eigentlich nicht erwarten würde, ausser man weiss von ihrer privaten Vorliebe für italienische Sportwagen und andere Pferdestärken-Monster, ein kleiner Verweis zum Albumcover.

NOW & THEN eröffnet einen faszinierenden Einblick hinter unbekannte Kulissen, das Album bringt Licht in verborgene Fahrstuhlschächte, es ist ein weit offenes Fenster in ein Genre das noch immer mit einem schlechten Ruf zu kämpfen hat. „This Masquerade“ kam 1974 noch einmal zu Ehren, als Flipside der Single „Please Mister Postman“. Ich habe mir das Scheibchen kürzlich zugelegt und ja, wer das jetzt gelesen hat, dem kann ich die Vermutung bestätigen, dass „This Masquerade“ vom Verfasser dieser Zeilen mindestens genau so oft angewählt wird wie die prominentere Seite A.

Die Carpenters sind mittlerweile rehabilitiert und man darf offen für sie schwärmen, was ich nun mit dieser Rezension auch ausführlich gemacht habe: „Mellow und die Carpenters, oder wie aus einem anfänglich pastellfarbenen Albtraum mit abschreckendem Charakter doch noch so etwas wie eine Liebesziehung wurde“ könnte man das nennen. Zu meiner Ehrrettung möchte ich übrigens noch anführen, dass auch John Lennon äusserst angetan war von den Carpenters, zumindest von Karen, respektive ihrer Stimme.

Karen Carpenter starb am 4. Februar 1983 im Alter von 33 Jahren an den Folgen ihrer Magersucht.

Richard Carpenter betreut bis heute den gemeinsamen musikalischen Nachlass,
er hat sich aber mehr oder wenig aus dem Rampenlicht zurückgezogen.

LONG LIVE EASY LISTENING!
mellow

 

Carpenters – NOW & THEN (1973, A&M Records)

  1. Sing
  2. This Masquerade
  3. Heather
  4. Jambalaya (On The Bayou)
  5. I Can’t Make Music

Medley:
6.  Yesterday Once More
7.  Fun, Fun, Fun
8. The End Of The World
9. Da Doo Ron Ron (When He Walked Me Home)
10. Deadman’s Curve
11. Johnny Angel
12. The Night Has A Thousand Eyes
13. Our Day Will Come
14. One Fine Day
15. Yesterday Once More (Reprise)

Produced by Richard and Karen Carpenter
Arranged and Orchestrated by Richard Carpenter
Vocals: Richard and Karen Carpenter / The Jimmy Joyce Children’s Chorus on „Sing“
Keyboards: Richard Carpenter
Lead Guitar / D.J.: Tony Peluso
Guitar: Gary Sims
Bass: Joe Osborn
Drums: Karen Carpenter / Drums on „Jambalaya“: Hal Blaine
Flute & Tenor Sax: Bob Messenger
Baritone Sax: Doug Strawn
Oboe, English Horn: Earl Dumler
Recorder: Tom Scott

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